Leopold Kohrs Rede zur Verleihung des Alternativnobelpreises

 

 

1984 – der legendäre Roman von George Orwell - zeichnet das visionäre Bild eines totalitären Präventions- und Überwachungsstaates.

 

Kohr und Orwell treffen sich in Valencia eine Woche lang jeden Tag, diskutieren und philosophieren miteinander über Szenarien der Zukunft, Überwachungsstaat und Massengesellschaft. Kohr: „Über dem Hauptplatz von Valencia hing ein großes Plakat: Die Leute sollen sich daran erinnern, dass der Feind nur 150 Kilometer entfernt sei. Das haben wir kommentiert. Nicht 150 Kilometer ist er entfernt! Er ist schon da, mitten unter uns! Es ist eine andere Art von Feind: Die Kontrolle in der Massengesellschaft.“ 1947 erscheint George Orwells „1984“. Im Jahr 1957 erscheint Kohrs zentrales Werk „The Breakdown of Nations (Das Ende der Großen).“

Am 9. Dezember 1983 erhält Leopold Kohr den alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award) für seine „... frühe Inspiration der Bewegung für ein menschliches Maß“ („...for his early inspiration of the movement for a human scale“).

 

In seiner Dankesrede „Am Vorabend von 1984“ warnt er eindringlich vor den Folgen zentralisierter Gesellschaften – ob rechts oder links - und ihrer Tendenz zur allgegenwärtigen Überwachung. Der Ausweg: Aufteilung zu groß geratener Strukturen in überschaubare Einheiten.

 

 

 

Vorwort

 

„Am Vorabend von 1984“ nannte Leopold Kohr seine Dankesrede zur Verleihung des Alternativen Nobelpreises“ (Right Livelihood Award) im Dezember 1983. „1984“ war dabei nicht einfach das Jahr, das auf 1983 folgte, sondern stand als drohende Zukunftsvision für den totalitären Überwachungsstaat in einer Massengesellschaft, literarisch verewigt durch George Orwells gleichnamigen Roman, der erstmals 1947 erschien. Orwell und Kohr kannten sich gut von ihrer Korrespondententätigkeit während des Spanischen Bürgerkrieges. Sie diskutierten schon damals die drohende Entwicklung zu einer Massengesellschaft und einen damit notwendigerweise einhergehenden totalitären Überwachungsstaat, wie er sich wenig später im Nationalsozialismus und Stalinismus auf grausame Weise erstmals zeigte. Dass diese Entwicklung zur Maßlosigkeit nur durch energisches Eintreten für ein menschliches Maß, für überschaubare Größe und Entwicklung veränderbar sein könnte, war die Botschaft von Leopold Kohr. „Jenseits einer bestimmten kritischen Größe sind wir schlicht und einfach nicht mehr Herr über unser Schicksal.“ Die Umkehr des ein - dimensionalen Zuges in Richtung Größenwahn, Geschwindigkeitsrausch und Vereinigungsfieber hin zur Entwicklung in kleine, überschaubare und verantwortbare Einheiten – von Kritikern gerne als Rückkehr ins „dunkle Mittelalter“ bezeichnet – wäre als der eigentliche Fortschritt zu denken. Der ist bisher allerdings noch nicht gelungen. Der Leopold Kohr Preisträger Dieter Senghaas formulierte es in einer Besprechung („Kleinstaaten als Rettung“) des Kohr Buches „Weniger Staat. Gegen Übergriffe der Obrigkeit“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1965 so: „Während die Entwicklung zu großräumigen Föderationen auf der Basis der bestehenden Staatenwelt eine bewusste Förderung von Seiten der Politiker und Wissenschaftler erfährt, muss ein entgegengesetztes Programm als Elaborat einer spintisierenden und romantischen Phantasie erscheinen. Noch ist aber die Frage offen, ob dieser Romantizismus nicht die Rationalität auf seiner Seite hat.“ Der Gegenentwurf zur Utopie der Vereinigungsfanatiker und den wenigen großen Machtblöcken war für Leopold Kohr eine Welt der kleinen Einheiten, zu klein, um große politische Katastrophen anzuzetteln, aber groß genug, um selbstbestimmt leben zu können, und optimal dafür, ihren Bürgerinnen und Bürgern ein gutes Leben zu ermöglichen. Und natürlich gelte das gleiche für die anzuwendende Technik: Keine schöne neue Maschinenwelt, an deren Rand Arbeitslosenheere dahinvegetieren, sondern mittlere Technologien, die den Menschen nachhaltig Arbeit als sinnspendende Lebensaufgabe bieten würden. Die rasante Entwicklung der technischen Möglichkeiten, der Rechenmaschinen, des Internets und der internetbasierten sozialen Netzwerke hat die Freiheit des Individuums nur vordergründig befördert. Im Jahr 2013, dreißig Jahre nach der Preisverleihung der Right Livelihood Foundation an Leopold Kohr, sind Orwells drohende Albtraumvisionen aktueller denn je. Den wenig schmeichelhaften Preis „Big Brother Award 2013“ erhielten die Internetgiganten Google und Apple. Einer ihrer Mitarbeiter meinte sinngemäß, der „Große Bruder“ sei nicht irgendein anonymes Monster, sondern der diese Techniken nutzende „zahlende Konsument“. Und diese Internetgiganten arbeiten mit „Sicherheits“- Giganten zusammen. Die traurige Realität zeigt ihr erschreckendes Antlitz noch im selben Jahr durch die Enthüllungen eines ehemaligen Mitarbeiters des US-amerikanischen nationalen Sicherheitsdienstes NSA: Die weltweite Überwachung der Internetkommunikation, die jeden einzelnen Menschen betreffen kann, oder wie der Aufdecker meinte: „Die Zielperson wird komplett überwacht. Ein Analytiker wird täglich einen Report über das bekommen, was sich im Computersystem der Zielperson geändert hat. Es wird auch ??Pakete?? jener Daten geben, die die automatischen Analysesysteme nicht verstanden haben, und so weiter. Der Analytiker kann entscheiden, was er tun will – der Computer der Zielperson gehört nicht mehr ihr, er gehört dann quasi der US-Regierung.“ Grund genug, die Aktualität der Rede von Leopold Kohr – fast 70 Jahre nach seinen Gesprächen mit George Orwell und dreißig Jahre nach der Verleihung des “Alternativen Nobelpreises“ – ins Bewusstsein zu rufen. Für die Leopold Kohr-Akademie Susanna Vötter-Dankl, Christian Vötter, Alfred Winter, Günther Witzany

 

Der Preis

 

Der Right Livelihood Award, besser bekannt als „Alternativer Nobelpreis“, wurde 1980 vom deutsch-schwedischen Publizisten und späteren Europa- Abgeordneten Jakob von Uexküll ins Leben gerufen. Über die Vergabe entscheidet eine internationale Jury. Die Verleihung findet seit 1985 jedes Jahr im Dezember im schwedischen Reichstag statt. Der Preis wird meist an vier Preisträger vergeben und ist mit je 500 000 SEK (Stand 2013) dotiert, wobei einer der Preise oft ein undotierter Ehrenpreis ist. Mit dem Preis wird die Arbeit der Preisträger unterstützt. Darüber hinaus dient er dazu, das Wissen und die praktischen Lösungsansätze seiner Preisträger international zu verbreiten. Ermöglicht wird die Unterstützung der Preisträger durch private Spenden und Vermächtnisse. Wie auch Sie sich beteiligen können sowie weitere Details erfahren Sie auf http://www.rightlivelihood.org.

 

 

Die Preisträger

153 Personen und Organisationen aus 64 Ländern sind seit 1980 mit dem „Alternativen Nobelpreis" ausgezeichnet worden. Sie alle zeigen, dass mit Tatkraft, Mut und Kreativität zunächst unlösbar scheinende Probleme überwunden werden können. Anders als die Nobelpreise kennt der Right Livelihood Award keine Kategorien. Denn oft sind es gerade jene neuen Wege und Lösungsansätze, die in keine Schublade passen, die den Problemen unserer Zeit am besten gerecht werden. Die Preisträger setzen sich für Menschenrechte, Frieden, Konfliktlösung, die Rechte von Minderheiten, kulturelle und spirituelle Erneuerung, den Schutz der Umwelt und den nachhaltigen Umgang mit unseren Ressourcen ein. Weitere Themen der Arbeit der Preisträger sind Globalisierung, Landwirtschaft, Kinder, Bildung, Ernährung, Alternative Technologien und neue Wirtschaftsmodelle.

Begründung der Verleihung des Preises an Leopold Kohr

aus: www.rightlivelihoodaward.org)

Honorary Award: “...for his early inspiration of the movement for a human scale.” Leopold Kohr wurde 1909 in Oberndorf, in der Nähe von Salzburg, geboren. Er studierte an den Universitäten von Innsbruck, Paris, Wien und an der London School of Economics. Nach einer Reihe von Tätigkeiten, unter anderem war er Korrespondent im Spanischen Bürgerkrieg, begann seine Universitätslaufbahn: Er lehrte von 1955-1973 unter anderem an der Rutgers Universität in den Vereinigten Staaten, später als Professor für Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaft an der Universität von Puerto Rico. Danach lehrte er Politikwissenschaften an der Universität Wales in Aberystwyth. Kohr war der Entdecker und für 25 Jahre auch der einzige Anwalt für die Theorie vom menschlichen Maß und die Idee einer Rückkehr zum Leben in kleinen sozialen Einheiten. Seine Ideen wurden später von seinem Freund Fritz Schumacher populär gemacht, vor allem in dem Bestseller „Small is Beautiful“. Kohr wies beständig auf die Fähigkeit kleiner, unabhängiger Einheiten zur Lösung struktureller Probleme hin. In Verbindung mit den Nationen der Dritten Welt war er einer der ersten, der darauf aufmerksam machte, dass die Entwicklungshilfe von außen die lebendige Identität von Kulturgemeinschaften unwiederbringlich zerstört. Kohr unterstützte daher lokale Initiativen und Teilhabe. Seine Vision war die Auflösung zentraler Strukturen zugunsten der Selbstkontrolle kleiner Einheiten, die ihre lokalen Probleme mit ihren eigenen Mitteln und Fähigkeiten lösen können. Kohrs Ideen zum Kennenlernen und Nachlesen finden sich in seinen Publikationen, u.a. Das Ende der Großen (Otto Müller Verlag 2001), Entwicklung ohne Hilfe (Otto Müller Verlag 2007), Die überentwickelten Nationen (Otto Müller Verlag 2003). In seinem Todesjahr 1994 wählte ihn die Sunday Times zu einem der führenden Denker des 20. Jahrhunderts, als einen der maßgeblichen Kritiker des Größenwahns und des Wirtschaftswachstums. Andere wieder betonten, dass Kohrs Ideen zeit seines Lebens von Spott und Hohn begleitet waren. Aber obwohl er sich selbst als philosophischen Anarchisten beschrieb, packte er seinen Anarchismus in Witz und Humor, wohl wissend, dass seine Theorien den Grundannahmen von Politikern und Wirtschaftswissenschaftern widersprachen. In Österreich ehrte ihn die Stadt Salzburg mit der Verleihung des Goldenen Ringes und richtete 2008 ein Institut mit seinem Namen ein – die Akademie mit Archiv, Forschung und Projekten an der Universität Salzburg.

 

The Right Livelihood Award / „Alternativer Nobelpreis” 1983

Dankesrede von Leopold Kohr 9. Dezember 1983

 

 

Am Vorabend von 1984

Es ist eine große Ehre, anlässlich der Verleihung des „Alternativen Nobelpreises“ 1 983 eine Rede halten zu dürfen, am Vorabend dessen, was eines der schicksalsträchtigsten Jahre in der Geschichte zu werden droht, nämlich George Orwells 1984.

Es besteht freilich immer die Möglichkeit, dass sich die Dinge besser entwickeln, als er sich das ausgemalt hat. Unsere Politiker von der Rechten wie von der Linken müssen sich nur davon überzeugen lassen, eine dritte Alternative zu den Optionen zu wählen, die ihre gegensätzlichen Ideologien zu bieten haben und die beide hoffnungslos in die gleiche Richtung führen: in den Abgrund der nicht mehr beherrschbaren Größenverhältnisse. Sie ähneln in gewisser Weise den Kapitänen eines Bootes, das auf dem Niagara River dahintreibt und das, nachdem ein Leck aufgetreten ist, welches die kapitalistische Besatzung nicht mehr abdichten kann, von einer sozialistischen Crew übernommen wird, dank deren unverbrauchter Energie und unbekümmertem Herangehen der Schaden sofort behoben werden konnte. Scheinbar eine wunderbare Sache. Doch wie gesagt, das Boot treibt auf dem Niagara dahin. Die Folge ist: Was so effektiv repariert wurde, sorgt dafür, dass das Boot gerade deshalb schneller in den brodelnden Abgrund der großen Wasserfälle stürzt, weil es in besserem Zustand ist als mit dem kapitalistischen Leck. Die Reparatur verschafft der Besatzung den gleichen Trost, den ein walisischer Arzt für die medizinisch bestens versorgt en und unablässig joggenden Bürger der Vereinigten Staaten bereithielt: Sie landen in perfekter Verfassung auf dem Totenbett. Die Besatzung hätte etwas ganz anderes tun sollen: nicht das Boot reparieren, sondern es versenken und selber ans Ufer schwimmen. Das wäre die rettende Alternative gewesen, nicht der Ideologiewechsel. Was aber ist die rettende Alternative zu den Optionen, die uns von links und rechts zur Bewältigung der Navigationsschwierigkeiten offeriert werden, der Schwierigkeiten, die durch das Hauptproblem unserer Zeit verursacht sind? Um eine Antwort zu geben, von denen viele im Angebot sind, muss man zunächst einmal die Frage kennen. Was ist unser Hauptproblem? Ist es die Armut? Ist es der Hunger? Die Arbeitslosigkeit? Sind es Korruption, Inflation, Wirtschaftskrise, Jugendkriminalität? Ist es die Energiekrise? Oder der Krieg? Nichts davon. Das wahre Problem ähnelt dem, vor dem ein Bergsteiger im Himalaja steht. Sein Herz tut weh, seine Lungen ächzen, seine Ohren schmerzen, seine Augen sind blind, seine Haut reißt auf, und doch kann ihm kein Herz-, Lungen-, Ohren, Augen- oder Hautspezialist helfen, denn seinen Organen oder seiner Haut fehlt im Grunde nichts. Sein einziges Problem ist, dass er sich in zu großer Höhe befindet. Er leidet an der Höhenkrankheit, und die Antwort besteht nicht darin, Spezialisten kommen zu lassen, sondern ihn in tiefer gelegene Regionen zu bringen. Nur wenn er auch auf geringerer Höhe noch die gleichen Schmerzen verspürt, ist es sinnvoll, einen Arzt zu konsultieren. Ähnlich verhält es sich mit den gesellschaftlichen Krankheiten unseres Zeitalters. Nicht die Armut ist unser Problem. Unser Problem ist die ungeheure Ausbreitung der Armut. Nicht die Arbeitslosigkeit ist der Skandal, sondern das Ausmaß heutiger Arbeitslosigkeit; nicht der Hunger, sondern die erschreckend hohe Zahl derer, die davon betroffen sind; nicht die Wirtschaftskrise, sondern ihr weltumspannendes Ausmaß; nicht der Krieg, sondern seine atomare Dimension. Mit anderen Worten: Das eigentliche Problem unserer Zeit ist nicht materieller Natur, sondern betrifft die Dimensionen. Es ist eines des Ausmaßes, der Größenverhältnisse, des Umfangs, nicht ein Problem spezifischer Art. Und da die Größe, das Ausmaß gesellschaftlicher Komplexität in ihren Dimensionen aus der betroffenen Gesellschaft resultiert, folgt daraus, dass man damit, analog zur Höhenkrankheit, nur auf eine Weise fertig werden kann: indem man die Größe der betroffenen Gesellschaft auf Proportionen reduziert, innerhalb derer der Mensch mit seiner begrenzten Statur wieder die Kontrolle darüber gewinnen kann. Doch auch das wird keines der Probleme lösen, von denen wir heimgesucht werden. Der Arme wird, wie Jesus sagte, immer unter uns sein. „Menschen“, verkündete Hesiod vor 2800 Jahren in seiner Geschichte über die Büchse der Pandora – das kollektive Geschenk des Obersten Sowjets der Gottheiten an die menschliche Spezies –, „werden auch weiterhin die Städte anderer Menschen zerstören.“ Und wie mein von mir hoch verehrter verstorbener Freund Howard Gossage aus San Francisco zu sagen pflegte, werden auch in einer kleinen Gesellschaft weiterhin von einhundert Menschen einhundert sterben. Doch das Gespenst ungelinderten, unverminderten, endlosen, nicht zu bewältigenden Schreckens, Elends und Angsthabens wird zusammen mit deren Größe schrumpfen, bis wir es nur noch mit den gewöhnlichen Problemen zu tun haben, die das Schicksal uns als Beigabe zu den Freuden unserer Reise durchs Leben beschert hat. Das führt uns zu einer Geschichtsdeutung, die den bestimmenden Einfluss auf den historischen Wandel nicht Veränderungen durch Staatsmänner, Religionen, Ideologien, Klima, Topografie, Zufall oder, wie Marx so brillant gezeigt hat, die Produktionsweise zuschreibt, sondern der sich verändernden Größe einer Gesellschaft. Der Mensch wurde nicht deshalb aus dem Paradies vertrieben, weil Eva vom Apfel aß, sondern weil nicht genügend Äpfel für eine wachsende Bevölkerung übrig waren. Also musste er fortan seinen Lebensunterhalt durch eine härtere Produktionsweise im Schweiße seines Angesichts verdienen. Die symbolische Bedeutung der Geschichte von der Austreibung aus dem Paradies liegt deshalb im Feigenblatt als dem ersten Verhütungsmittel und weniger im Apfel als malthusianischer Warnung vor der drohenden Nahrungsmittelknappheit. Und so ist es geblieben bis zur atomaren Produktionsweise unserer Tage, die es der menschlichen Bevölkerung nicht ermöglicht hat, zu wachsen. Es verhält sich genau umgekehrt. Die explodierende Weltbevölkerung sah sich quasi gezwungen, die atomare Produktionsweise zu erfinden, ganz gleich, ob sie die Umwelt verpestet oder 1984 zur globalen Auslöschung führt. Jenseits einer bestimmten kritischen Größe sind wir schlicht und einfach nicht mehr Herr über unser Schicksal. Denn wie sagte Theophrastus Paracelsus: „Alles ist Gift, ausschlaggebend ist nur die Menge.“ Das gilt für die Menschheit genauso wie für Grashüpfer. Oder wie Churchill meinte, als er beim Wiederaufbau des britischen Unterhauses nach dem Krieg dafür plädierte, dass es seine ursprüngliche kleine, enge, längliche Form behalten müsse, wenn man den Debattiergeist der Demokratie bewahren wolle: „Wir formen unsere Gebäude, aber später dann formen unsere Gebäude uns.“ Die Lösung für die Defizite eines unkontrollierten Kapitalismus liegt deshalb nicht mehr, wie das vielleicht früher einmal der Fall war, darin, gelenkte Koordination und sozialistische Kontrollen einzuführen. Denn die Führerschaft weder der einen noch der anderen Ideologie kann etwas kontrollieren, das aufgrund der übermäßigen Größe unseres vereinten sozialen, politischen und ökonomischen Umfelds jeglicher menschlicher Kontrolle entwachsen ist. Nicht einmal der Computer kann dabei helfen, auch wenn dieses geschlechtslose Instrument des übermäßigen Wachstums – handelt es sich um einen Er, eine Sie, ein Es? – jüngst auf die Frage, ob Gott existiere, antwortete: „Jetzt tut ersiees das.“ Ebenso wenig liegt die Lösung in einem Zusammenschluss von Völkern oder Nationen. Das würde das Problem der übermäßigen Größe schlicht noch verschlimmern, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass unsere Schwierigkeiten nicht Folge einer Aufteilung sind, die uns aufgrund unseres blasphemischen Vereinigungsversuchs bei den Türmen von Babel und Manhattan aufgezwungen wurde, sondern einer schlechten Aufteilung, die aus der ungleichen nationalen Größe resultiert, in welcher sich Teile der Menschheit selbst organisiert haben. Wenn also das Hauptproblem eines der übermäßigen Größe ist, der unüberschaubaren Dimensionen, des krebsartig wuchernden Überwachstums, dann kann die einzig praktikable Lösung nicht in noch größeren Einheiten liegen, die jedes Problem entsprechend noch weiter verschärfen würden, sondern nur in der entgegengesetzten Richtung: in der Kleinheit. Allein sie kann die Fülle an Folgeproblemen lösen, die aus dem Hauptproblem der übermäßigen gesellschaftlichen Größe erwachsen. Und es löst sie nicht, indem sie sie aus der Welt schafft, sondern indem sie sie durch die Reduzierung ihres Ausmaßes kontrollierbar macht. Politisch wurde das vorgemacht in den erfolgreichen kantonalen Strukturen föderaler und konföderaler Unternehmungen, die vom riesigen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bis hinunter zur kleinen Schweiz und wieder hinauf zu den Vereinigten Staaten reichen und die zeigen, dass selbst eine Union die Größenprobleme in den Griff bekommen kann, solange die untergeordneten Teileinheiten gleich (oder sogar ungleich) klein sind. Und militärisch wurde es durch die Waffenruhe Gottes (treugaDei) im Mittelalter vor Augen geführt, die die Aktionen der Kriegführenden aufspaltete und begrenzte. Klugerweise verbot sie niemals den Krieg. Alles, was sie tat, war, ihn auf erträgliche Dimensionen zu reduzieren, indem sie kriegerische Handlungen an Wochentagen, niemals aber an Samstagen, Sonn- und Feiertagen erlaubte, von denen es so viele gab, dass der Frieden gesichert war. Doch der eigentliche Grund, warum sich die kampffreudigen Kriegsparteien an die Einschränkungen der treuga hielten, war weniger ihre Frömmigkeit als vielmehr die handfeste Tatsache, dass sie alle zu klein waren, um der moralischen Autorität einer Kirche zu widersprechen, die ebenfalls nicht zu mächtig war, aber doch die meiste Zeit über ihren stärksten untergeordneten Einheiten überlegen war. Das ist nicht graue Theorie, sondern Arithmetik der Unterordnung. Erst als Kaiser Maximilian, der erste moderne Utopist, den Ewigen Landfrieden verkündete in dem Versuch, die fragmentierten, unbedeutenden Splitterkriege in einen unteilbaren Frieden zu verwandeln, scheiterte dieses dem gesunden Menschenverstand entsprungene Konzept, und die Welt erlebte seither das Spektakel von zwei blutigen, unteilbaren Kriegen pro Jahrhundert. Angesichts dessen lautet die Antwort auf das übergeordnete Problem der Größe deshalb nicht Sozialismus, Kapitalismus, Fusionismus oder Pazifismus, wie uns ständig vergeblich gepredigt wird. Die Antwort auf Größe (bigness) ist Kleinheit (smallness). Denn, es sei noch einmal betont, die Hauptursache für das menschliche Elend sind nicht mehr Ideologie, Religion oder Wirtschaftssystem, sondern übermäßige Größe. Und wenn Kleinheit die Antwort ist, dann nicht, weil sie so „beautiful“ ist, wie Fritz Schumacher das in seinem Bestseller so prägnant formuliert hat – ein Bestseller übrigens, den zwar viele loben, an den sich aber kaum jemand hält. Sie ist wunderbar, weil sie auch natürlich ist, weil sie im Einklang steht mit der Struktur der Dinge oder – um den Titel eines Buches von Joseph Maid zu zitieren, einem anderen alten Freund, der im kleinen Liechtenstein lebt – weil sie „ - lebensrichtig“ ist, was, ins Englische übersetzt, genau die gleiche Vorstellung zum Ausdruck bringt, die auch der Right Livelihood Foundation zugrunde liegt, der Begründerin des „Alternativen Nobelpreises“. Und genau darin, dass sie nämlich „lebensrichtig“ ist, liegt denn auch die grundlegende Stärke des Plädoyers für Kleinheit. Sie ist das Bauprinzip des Universums in all seinen Ausformungen – physisch, mathematisch, chemisch, musikalisch, biologisch, architektonisch, medizinisch, ökonomisch, politisch und gesellschaftlich. In der Chemie hat sie die Untersuchungen beeinflusst, die Peter Mitchell 1978 den Nobelpreis einbrachten. In der Ökonomie entwickelten Leute wie Raul Prebish das, was ich als das Gesetz der peripheren Vernachlässigung bezeichnet habe, oder Gunnar Myrdal sein „Prinzip der zirkulären und kumulativen Verursachung“, mit dem er die retardierende und keineswegs Nutzen bringende Wirkung gemeinsamer Märkte auf ihre weniger weit fortgeschrittenen Mitglieder demonstriert. Und Erwin Schrödinger, Nobelpreisträger für Physik, hat in seinem entzückenden Büchlein Was ist Leben? nicht nur gezeigt, dass Atome klein sind, wie jeder weiß, sondern auch die eigentlich wichtige Frage beantwortet, nämlich warum sie klein sind. Da es sie in riesiger Zahl gibt und sie sich ständig in unbegrenzter Freiheit bewegen, müssen sie statistisch gesehen in immer wiederkehrenden Zusammenstößen aufeinanderprallen. Wären sie groß oder mit großen Exemplaren durchsetzt wie Krebszellen im menschlichen Körper oder Großmächte im Körper namens Politik, würden ihre Kollisionen unausweichlich in Zerstörung münden. Da sie jedoch klein sind, sind ihre Zusammenstöße – wie die tanzender Paare – nicht nur harmlos, sondern sorgen auch für eine niemals endende Kette neuer Konstellationen, Formen und Ordnungen, indem sie mit jeder Störung die Kräfte freisetzen, die zu einem neuen Gleichgewicht führen; sie ähneln damit den empfindlichen Mobiles, die über den Schreibtischen nervöser Beamter hängen und mit ihren zarten Bewegungen, die jeder Lufthauch verursacht, eine beruhigende Friedlichkeit verströmen – ohne Lenkung, ohne Richtung, ohne Kontrolle. In einem Universum kleiner Teile bedarf es nicht einmal eines Eingreifens des Schöpfers, der diese Welt formte; er ist zufriedener Betrachter seiner aufregenden Schöpfung und nicht unermüdlich intervenierender Aufpasser, metteur en scene oder Big Brother, wie er für das ominöse Jahr 1984 prophezeit ist, das in 22 Tagen beginnt. In der Philosophie war der eloquenteste der frühen Verteidiger der Kleinheit als Heilmittel für gesellschaftliche Krankheiten kein Geringerer als Aristoteles; sein Idealstaat lässt sich mit einem einzigen Blick überschauen und in ihm lassen sich alle Probleme lösen, weil alles durchschaubar ist, die Beziehungen transparent sind und nichts verborgen bleiben kann. Daran dachte ich, als ich den Liechtensteiner Premier Alexander Frick 1945 fragte, ob sein Land wie Großbritannien, Frankreich, China, Italien, Deutschland und Japan amerikanische Hilfe brauche. „Schauen Sie“, antwortete er mit einem Anflug von verletztem Stolz, „warum um Himmels willen sollten wir Hilfe benötigen? Bis eine Großmacht überhaupt einmal aus einer Katastrophe lernt, haben wir den Schaden fast schon wieder behoben.“ Und als ich vor zwei Wochen einen Liechtensteiner Postbeamten fragte, was er denn als das Hauptproblem seines Landes betrachte, antwortete er prompt: „Keines.“ Dieser Meinung schloss sich seine Frau an, nicht aber ein anderer ehemaliger Premierminister, nämlich Dr. Gerard Batliner, der fast vierzig Jahre nach Dr. Frick eine gewisse Besorgnis äußerte über die langsam zunehmende Neigung der jüngeren Generation seines Landes, in Reaktion auf die Verlockungen des riesigen Wirkungsbereichs des Gemeinsamen Marktes und einer stärker vernetzten Weltgemeinschaft ihre kommerziellen Tätigkeiten über die Grenzen der Sichtbarkeit und des unmittelbaren Einflusses hinaus auszudehnen. Denn Größe, ach, ist nicht nur schlecht. Sie ist auch sehr ansteckend und teuflisch attraktiv – wie die Hölle, die letztlich für den größten Schrecken sorgt, der alles Lebende befällt – Angst. Am schlimmsten nämlich ist nicht Krieg, sondern die ständige Furcht davor, ganz gleich ob er nun atomar oder anders geführt wird. Der heilige Augustinus, auch er einer der bedeutenden frühen Apostel der Kleinheit, ermahnte die Römer mit Verweis auf die Fragilität großer Staaten: „Zunächst allerdings möchte ich eine kleine Untersuchung darüber anstellen, ob es vernünftig und klug sei, sich der Ausdehnung und des Umfanges einer Herrschaft zu rühmen, da man doch nicht erweisen kann, dass Menschen glücklich seien, die beständig mitten in Kriegsunruhen, watend im Blute, sei es Bürger- oder Feindesblut, doch eben in Menschenblut, umdüstert von Furcht und entfesselter Blutgier, dahinleben, sodass das Ergebnis aller Bemühungen eine Freude ist von zerbrechlicher Herrlichkeit wie Glas, wobei man die schreckliche Furcht nicht los wird, sie möchte unversehens brechen.“ (De civitate Dei, Buch IV, Kap. III) Daraus folgerte er, wie man das auch heute wieder tun kann, dass – in den Worten von Neville Figgis – „die Welt viel glücklicher regiert werden könnte, wenn sie sich nicht aus ein paar Ansammlungen zusammensetzte, die durch Angriffskriege gesichert werden müssen, mit ihrem gleichzeitigen Despotismus und tyrannischer Regierung, sondern von einer Gesellschaft kleiner Staaten, die in Liebe zusammenwohnen, die nicht die Grenzen des anderen überschreiten, die nicht von Eifersüchteleien gebrochen sind“. Doch Augustinus predigte nicht nur die Idee der Kleinheit in Übereinstimmung mit den Vorschlägen vieler anderer realistischer Einschätzer der Natur des Menschen, die wir Utopisten nennen wollen, wie Platon, Thomas Morus, Campanella oder Fourrier. Wie Robert Owen, der Begründer des Genossenschaftswesens (das – im Gegensatz zu den modernen ideologischen Monster versuchen sinnlos integrierter, übermäßig aufgeblähter Menschenanhäufungen – in der Individualität seiner autonomen kleinen Einheiten bis heute prächtig gedeiht), setzte Augustinus die Idee auch in die Praxis um, indem er den Grundstein für die Klöster legte, deren Ausdehnung qua Definition begrenzt war und deren vita communis der Welt paradoxerweise die Wortwurzel für den Begriff Kommunismus bescherte, der, zum Gigantismus ausgewachsen, genauso viel Schrecken verbreitet wie sein kapitalistischer Gegenriese, den zu bekämpfen er müde wird, womit wieder einmal das Diktum des Paracelsus belegt wäre, wonach alles Gift und ausschlaggebend nur die Menge ist – selbst der freundliche Klosterkommunismus des heiligen Augustinus. Nicht Vereinigung, Kapitalismus oder Sozialismus, sondern die Rückkehr zu einem angemessen aufgeteilten klösterlichen (Augustinus) oder genossenschaftlichen (Owen) Netzwerk kleiner Zellen, die wie in einer weltumspannenden Ordnung locker miteinander verbunden sind, bietet deshalb heute wie schon seit Jahrhunderten die Chance, die Standards unterentwickelter Regionen erfolgreich zu erhöhen. Denn das bietet die Möglichkeit, sich nicht mit Hilfe als dauerhaft abhängige, entfremdete, übellaunige Frustrierte zu entwickeln, die ihren Unterstützern keinerlei Dankbarkeit entgegenbringen, sondern ohne Hilfe als unabhängige, glänzende Gemeinschaften, die unendlich viel schneller zu Wohlstand, Sicherheit und Zufriedenheit gelangen, als dies jetzt unter der zentralisierten Lenkung ferner Wohltäter möglich ist. Sie müssen einzig und allein die materiellen und geistigen Ressourcen ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nutzen, denn damit sparen sie das, was Henry Charles Carey als „die erste und schwerste Steuer, die das Land und die Arbeit zu zahlen haben“ bezeichnete, nämlich „die Transportkosten“; sie steigen geometrisch mit jeder arithmetischen Zunahme der Entfernung und verschlechtern den Lebensstandard und die Lebensqualität gerade durch die Hilfe, die beides eigentlich verbessern soll. Sicher, Entwicklung ohne Hilfe bedeutet auch eine Rückkehr zu dem, was Schumacher als „mittlere Technologie“ (intermediate technology) bezeichnete, das heißt: länger und härter zu arbeiten. Doch länger und härter zu arbeiten ist genau das, was eine Welt braucht, die durch die fortgeschrittene Technologie (advanced technology) eines Maschinenzeitalters, das von Charlie Chaplin in seinem Film Modern Times so beißend karikiert wurde, in immer weiter wachsende Arbeitslosigkeit und Untätigkeit getrieben wurde. Wenn jedoch die mittlere Technologie den gleichen hohen Lebensstandard gewährleisten soll wie die fortgeschrittene Technologie, muss sie auf Regionen und Gesellschaften von begrenztem Ausmaß angewandt werden. Damit wären wir wieder beim „Kleinen“, das nicht nur ein wenig härter, sondern auch wunderbar ist. Denn nur im kleinen gesellschaftlichen Umfeld ist die mittlere Technologie nicht nur angemessen und ökonomisch, sondern auch ökonomischer als die fortgeschrittenste Technologie, so wie sich der Rhein mit einem Ruderboot ökonomischer überqueren lässt als mit einem Düsenjet. Deshalb waren antike und mittelalterliche Klöster, die ihre Energien auf die Kultivierung ihrer unmittelbaren Umgebung konzentrierten, in der Lage, sich von den zerfallenden Imperien um sie herum abzugrenzen, die aufrechterhalten wurden durch eine lässliche, einem machtlosen Regierungsapparat dienende Bürokratie, und – wie Toynbee sagen würde, „fern aller Zerstörung“ und Regierungsvorgaben – das funkelnde Netzwerk quasi souveräner Gemeinschaften aufzubauen, und das binnen eines Zeitraums, in dem moderne Ingenieure des Lebens im großen Maßstab gerade einmal die der Investition vorangehende Infrastruktur schaffen. Mit Hilfe von Wasser, Wind und Muskelkraft entwickelten sie Landwirtschaft, Ackerbau, Forstwirtschaft und Fischerei zu solcher Blüte, dass Fastentage, an denen nur Fisch zusammen mit entsprechenden klösterlichen Nebenprodukten wie Benediktineroder Chartreuselikör erlaubt war, zu Festtagen wurden, denen man mit Freuden entgegenblickte. Und wenn ihre materiellen Bedürfnisse auf regionaler Basis befriedigt waren, begannen die Mönche damit, ihre Zellen mit unsterblichen Malereien auszuschmücken, Musik für ihre Gebete zu komponieren, den Jungen Latein und Griechisch beizubringen, Literatur, Architektur und die Künste zu fördern und die antiken Autoren in illustrierten Handschriften auf dauerhaftem Pergament abzuschreiben, ohne die die Wurzeln der westlichen Kultur spurlos verschwunden wären. Gleiches galt für die Stadtstaaten der Antike, die, befreit von der Carey’schen Transportsteuer und den Kosten der Beförderung von weit her, binnen einer einzigen Generation – wie die Athener im Falle der Akropolis – Strukturen aufbauten, über die der Geograph Pausanias Jahrhunderte später sagte: „Als sie neu waren, sahen sie bereits alt aus. Nun, da sie alt sind, sehen sie noch immer neu aus.“ Philipp II. von Spanien entwickelte die hinreißende regionale Stadtstaatstruktur Mexikos mit dem simplen Mittel eines Erlasses, wonach Klöster so weit entfernt voneinander und insbesondere von den Vergnügungen von Mexiko-Stadt anzulegen waren, dass es für sie schwierig war, ihre Zeit mit inzestuöser Kommunikation zu vergeuden – das genaue Gegenteil der heutigen Entwicklungsplanung. Ihnen blieb also nichts anderes übrig, als in konkurrierender Herrlichkeit die Dinge zu verdoppeln, in deren Genuss sie nicht durch einen Ausflug in die weit entfernten, bereits entwickelten Zentren kamen. Und selbst in unserer Zeit finden sich ähnlich erfolgreiche Entwicklungsexperimente, etwa bei den Amischen in Nord- und Südamerika, in den Kibbuzgemeinschaften in Israel und in den kleinen Landkommunen des kommunistischen China, welche die verstorbene Joan Robinson aus Cambridge so sehr beeindruckten, dass sie unbewusst die Lehre von John Seymour aus dem irischen County Wexford übernahm. Wie in den anderen Fällen auch war das chinesische Entwicklungsinstrument für die lokalen Kommunen nicht eine Ausweitung der staatlichen Kontrolle und Hilfe über das Maß eines Geburtstagsgeschenks hinaus, sondern ein Vorenthalten dessen, was ohnehin nicht offeriert hätte werden können, und ein Ermutigen der Vorstellung, dass die Menschen vor Ort die Dinge lokal regeln sollten, und zwar mit den Instrumenten, über die sie bereits verfügen, mögen sie auch noch so primitiv sein. Denn Pyramiden, Kathedralen, Fabriken, Straßen werden letzten Endes nicht mit Geld oder Maschinen gebaut, die beide auch in reichen Ländern knapp sind, wenn man bedenkt, dass man nie genug davon haben kann, sondern mit Händen, die selbst in den ärmsten Gemeinschaften reichlich vorhanden sind und die einzige alternative Energiequelle darstellen, die nie versiegt, weil jeder damit auf die Welt kommt. Doch auch hier ist es wieder so: Damit die mittlere Technologie der Muskelkraft ökonomisch sein kann, muss die Gesellschaft, der man damit dient, klein sein; ich selbst erlebe das jeden Tag in meiner alternativen Kleinstadt Aberystwyth in Wales, wo ich zu Fuß, was nichts kostet, mehr erledigen kann als mit dem Auto, das jede Menge kostet und mit dem ich einzig und allein die Stadt verlassen kann. Lösen wir also das eine unlösbare Problem unserer Zeit, nämlich die Höhenkrankheit der übermäßigen Größe und der unkontrollierbaren Größenverhältnisse, und greifen wir auf die Alternative sowohl zu rechten als auch zu linken Vorstellungen zurück: ein klein dimensioniertes gesellschaftliches Umfeld mit all seinem Potenzial für globale vielfältige Zusammenarbeit und weitgehend unabhängige Eigenständigkeit; es entsteht nicht durch die Ausweitung zentralisierter Kontrolle, sondern durch die Aufhebung der Kontrolle über lokal zentrierte und lokal sich nährende Gemeinschaften, die jeweils um eine Kerninstitution mit einem begrenzten, aber starken und unabhängigen eigenen Gravitationsfeld herum aufgebaut sind, wie das in der Form mittelalterlicher Klöster der Fall war. Deren Äbte, Väter und Brüder können der Welt somit wieder einmal Führung, Erkenntnis, Humanität und Geschmack vermitteln, auch wenn sie nicht zwangsläufig im Zölibat leben oder durch beeindruckende akademische Grade ausgewiesen sein müssen. Aber beides sollte man ihnen auch nicht übel nehmen. Ein Mensch, den ich mir sehr gut als Abt eines solchen Entwicklungsklosters vorstellen könnte, wäre Manfred Max-Neef. Da meine Zeit vorüber ist und das Ideal der Kleinheit auch für Dankesreden gilt, kann ich nicht mehr bieten als diesen sehr skizzenhaften Überblick über Geschichte, Philosophie und Wissenschaft der Kleinheit. Kleinheit ist selbstverständlich nicht die einzige Möglichkeit, die vorgeschlagen wurde, um dem schrecklichen Gespenst der Welt von 1984 zu entgehen, die uns in drei Wochen erwartet. Es wurden viele andere Vorschläge gemacht, von links wie von rechts, von Jung und Alt, von Schwarz und Weiß. Doch Kleinheit ist der einzige Weg, der natürlich, vernünftig, lebensrichtig, praktisch, wissenschaftlich und obendrein auch noch wundervoll ist. Was nicht funktioniert (und was jeder inzwischen wissen sollte), sind Größe, Vereinigung, Integration, das Singen internationaler Hymnen, Händchenhalten und geschwätziges Konferieren, woran all jene glauben, die die Zügel der Macht in ihren Händen halten und damit tatsächlich etwas ganz anderes tun könnten, als uns in Richtung der nuklearen Endstation zu lenken, die, glaubt man Schrödingers statistischen Gesetzen, in den nächsten drei Jahrzehnten erreicht werden wird – es sei denn, man löst die über - großen Menschenansammlungen auf, bevor sie die kritische Größe erreichen, ab der sie spontan explodieren. Was natürlich auch eine Lösung wäre. Es ist sogar die Alternative der Natur selbst, die sie zur Anwendung bringt, wenn sie eines Systems überdrüssig ist und es tötet, indem sie dieses System so groß werden lässt, bis es explodiert oder in sich zusammenfällt. Angesichts dessen sollte die Lösung der Kleinheit etwas genießbarer sein, so wie eine Sonntagspredigt, welche die Hölle in lebhaften Farben ausmalt, die himmlischen Segnungen der Sündlosigkeit ein wenig attraktiver machen soll, als sie es üblicherweise sind. Es wird jedoch immer wieder behauptet, die Kleinheit sei nichts weiter als der irrationale Traum eines Romantikers. Natürlich ist das romantisch. Aber nur für einen Romantiker hat das Leben überhaupt Sinn. Ein Leben, das aus dem Nichts beginnt und im Nichts endet und dazwischen eine Menge Geld kostet, ist rational betrachtet eine unhaltbare Verlustvorstellung. Nur ein Romantiker erkennt Glanz und Sinn in dem Regenbogen, der ich zwischen den beiden Nullgrößen am Anfang und am Ende aufspannt. Des Öfteren ist auch zu hören, in diesem Zeitalter des Fortschritts habe es keinen Sinn, umzukehren. Worauf der große walisische Anthropologe Alwyn Rees zu antworten pflegte: „Wenn man den Rand des Abgrunds erreicht hat, ist das Einzige, was Sinn hat: umzukehren.“ Abschließend will ich deshalb noch einmal betonen: Die eigentlichen Auseinandersetzungen unseres Zeitalters finden nicht zwischen Kapitalismus und Kommunismus, links und rechts, Männern und Frauen, Schwarz und Weiß, Jung und Alt statt. Das sind Probleme der Vergangenheit, die noch ein wenig weiter - bestehen wie das Leuchten der Sonne, nachdem sie schon untergegangen ist. Die wahre Konfrontation unserer Zeit ist die zwischen Mensch und Mensch, zwischen Individuum undGesellschaft, zwischen Bürger und Staat, zwischen der kleinen Gemeinschaft und der großen, zwischen David und Goliath. Wie sagte André Gide auf dem Totenbett: „Ich glaube an die Tugend kleiner Nationen. Ich glaube an die Tugend kleiner Zahlen. Die Welt wird von wenigen gerettet werden.“ Sofern George Orwell das gestattet. (Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn)

Schlussbemerkungen

Leopold Kohr und Eric Arthur Blair, alias George Orwell, waren Reporter im Spanischen Bürgerkrieg 1937 und teilten sich ein internationales Pressebüro mit dem späteren Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway und dem französischen Literaten, Existentialisten und späteren Politiker André Malraux. Kohr und Orwell treffen sich in Valencia eine Woche lang jeden Tag, diskutieren und philosophieren miteinander über Szenarien der Zukunft, Überwachungsstaat und Massengesellschaft. Kohr: „Über dem Hauptplatz von Valencia hing ein großes Plakat: Die Leute sollen sich daran erinnern, dass der Feind nur 150 Kilometer entfernt sei. Das haben wir kommentiert. Nicht 150 Kilometer ist er entfernt! Er ist schon da, mitten unter uns! Es ist eine andere Art von Feind: Die Kontrolle in der Massengesellschaft.“ 1941 erscheinen Kohrs Thesen erstmals im Magazin The Commonwealth. 1947 erscheint George Orwells „1984“. Im Jahr 1957 erscheint Kohrs zentrales Werk The Breakdown of Nations (Das Ende der Großen). 2013 deckt Edward Snowden – Mitarbeiter des US-amerikanischen Nachrichtendienstes NSA (National Security Agency) – die Überwachung der weltweiten Internetkommunikation (PRISM und Boundless Informant) sowie das noch umfassendere britische Überwachungsprogramm TEMPORA auf.

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